Das Ende der Isolierung der Energiewirtschaft – EVUs auf dem Weg zum Alleskönner


Vom „Neu-Denken“ zum „Anders-Machen“

Eine Branche erfindet sich neu – muss sich neu erfinden – und viele wollen daran partizipieren. So in etwa stellt sich die gegenwärtige Situation in der deutschen Energiewirtschaft dar. Der Weg dorthin war von einem stetigen Veränderungsprozess begleitet, der auf die regulatorischen Bedingungen und politischen Neuausrichtungen zurückzuführen sind. Von der Liberalisierung bis hin zur digitalen Transformation wurden zahlreiche Modifikationen in der Branche vorgenommen, welche sich heute im Jahre 2017 in einer hoch komplexen Branchen-Struktur und stark regulierten Prozessen wiederfinden.  Ausgehend nach dem Leitspruch des EnBW Vorstandsvorsitzenden Dr. Frank Mastieux „Energie neu denken“ ist der Prozess des Denkens in den Prozess des „Machens“ gewechselt, welcher die Transformation vor große Herausforderungen stellt. Doch zunächst ein Blick auf die energiewirtschaftlichen Meilensteine (der vergangenen 20 Jahre).

Die Historie der energiewirtschaftlichen Wendepunkte und der stetige Weg zur Veränderung

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Übersicht: Meilenstein-Historie der Energiewirtschaft

Die Zeit vor der Liberalisierung war von stoischer Ruhe, unspektakulären Prozessen, minimalen Preisschwankungen und Langfrist-Verträgen (z.B. Gaswirtschaft) mit bis zu 10 Jahren Laufzeit geprägt. Netzbetreiber, Produzent, Lieferant waren in einer Marktrolle vereint.

Im Jahre 1885 floss das erste Mal deutschlandweit Elektrizität aus einem öffentlichen Kraftwerk (vgl. Berkel, 2013). Die Politik schloss bis zum Jahr 1998 die Energiewirtschaft vom Wettbewerb aus. „(…) Die Versorgung der Wirtschaftsbetriebe und der Bevölkerung mit Strom und Wärme galt als Aufgabe der öffentlichen Daseinsvorsorge“ (Berkel, 2013).

Liberalisierungsprozess – Marktöffnung für Energiediscounter und neue „Player“

Im Jahre 1998 wurde beschlossen die Energiemärkte zu liberalisieren. Ähnlich dem umgesetzten Liberalisierungsprozess in der Telekommunikationsbranche. Das Ziel war es den Wettbewerb auf dem Strom- und Gasmarkt (ab ca. 2003) durch die Öffnung zu fördern, um somit „Gegenspieler“ für die großen „vier“ (Eon, RWE, EnBW, Vattenfall) zu liefern. Zusätzlich wurde auf sinkende Preise für die Verbraucher gehofft.

Um einem Scheitern der Liberalisierung entgegenzuwirken und den Markteintritt für kleine Unternehmen zu erleichtern wurde eine Regulierungsbehörde eingesetzt, die Bundesnetzagentur.

Energiewende – politisches Umdenken und neue gesetzlichen Anforderungen

Nach dem verehrenden Atomunglück in Fukushima (Japan) entscheidet sich die deutsche Bundesregierung 2011, nach einem drei monatigen Moratorium für den Atomausstieg. Der sukzessive Rückbau der Atomkraftwerke muss geplant werden und es müssen alternative bzw. erneuerbare Energien in den Markt integriert werden, um Versorgungslücken vorzubeugen. Das EEG (Erneuerbare-Energien-Gesetz) trat erstmalig im Jahr 2000 in Kraft (seit Januar 2017 ist das neue EEG 2017 in Kraft). Die Integration der Erneuerbaren Energien nimmt Fahrt auf. Die produzierenden Energieversorger stehen vor einer nahezu unlösbaren Aufgabe – das Geschäftsmodell bricht nahezu über Nacht weg.

Digitalisierung der Energiewirtschaft – Transformationsprozess in digitale Geschäftsmodelle

Mit dem 2016 verabschiedeten „Gesetz zur Digitalisierung der Energiewende“, wurde der sich bereits im Gange befindenden Transformationsprozess auf ein legislatives Fundament gestellt. Was bereits in der Gesellschaft erkennbar ist durchdringt nun auch den Energiesektor – digitale und mobile Prozesse beherrschen zunehmend den Markt und Anforderungen an neue Produkte und Dienstleistungen nehmen in einem hohen Tempo zu.

Der Blick zurück in die Zukunft: Perspektiven der EVUs – Alleskönner und Spezialisten

Betrachtet man die bedeutenden Meilensteine und Szenarien, die in den letzten Jahrzehnten die Energiewirtschaft durchlaufen hat, ist eine stetige Verfeinerung, Zerstückelung und somit die Zunahme der Komplexität von Geschäftsprozessen und Geschäftsmodelle erkennbar. Virtuelle Kraftwerke, Energiebeschaffung und -handel durch Endkunden über Web-Portale, Power2Gas, SmartHome eine nicht endende Flut von Kreativität und Ideenvielfalt durchmischt die Branche. Startups dringen in Nischen und große Energieversorger versuchen hierbei zu partizipieren – sei es durch Joint Ventures oder Aufkauf des Business.

Die stoische Ruhe hat sich zu einem hektischen und umtriebigen Sektor entwickelt, der neben den Anpassungen an gesetzlichen Anforderungen (z.B. Europäische Datenschutz-Grundverordnung), sich neue Business Lösungen erdenken muss, um am Markt nachhaltig bestehen zu können. Es werden Abteilungen und alte Geschäftsfelder komplett eliminiert (z.B. unrentables B2B Geschäft, EnBW) und neue aus der Taufe gehoben (z.B. Medienunternehmen gehen in den B2C Strom- und Gasvertrieb, 1&1).

Blickt man zurück in die Zeit Monopolisierung hatten die EVUs auch vieles vereint (Lieferant, Produzent, Netze etc.), heute jedoch ist der Markt und die EVUs sehr viel Kleinteiliger geworden. Die Energieunternehmen haben differenzierte Gesellschaften gegründet und spezialisieren sich in extremster Weise. Sie versuchen Energieverträge mit anderen Produkten zu kombinieren (z.B. Stromvertrag und Medien-Vertrag), um neue Formen und Formate von Kundenbindungen zu erproben und neue werthaltige Felder einzudringen, da der reine Energieverkauf kaum mehr Marge abwirft. Nicht nur Handelsgesellschaften oder Energytrader agieren an der Börse, es sind auch mittelständische Unternehmen, welche versuchen bestmöglich zu optimieren. Sei es durch eingekaufte externe Berater oder durch Gründung einer neuen internen Abteilung, welche sich auf Energiebeschaffung und -handel spezialisiert, um die bestmöglichen Ergebnisse selbst zu erwirtschaften. Bei kleineren Unternehmen erfolgt dies zumeist nicht direkt an der Börse, sondern über den OTC-Markt (Over-the-Counter-Markt). So hat der Autobauer BMW mit der Gründung von Digital Energy Solutions GmbH & Co. KG ein Segment aufgetan, mit welchem er für das eigene Geschäftsmodell energiewirtschaftlich optimieren und gute Preise erzielen möchte. Darüber hinaus nun die Möglichkeit besitzt, Schnittstellen zu anderen Branchen aufbauen kann und ganz neuen Kundenfeldern angehen kann.

Mit dem Blick auf die EVUs wird eines deutlich. Die Differenzierung nimmt zu und das Eindringen in weitere Nischen (z.B. Contracting, Energiedatenmanagement, Energieoptimierung, Steigerung der Energieeffizienz etc.) erhöht die „Mitspielerzahl“ am Markt. Demzufolge ist das Geschäftsfeld im Vergleich zur Monopolisierung nicht komplett unterschiedlich. Nein, vielmehr wird es durch die Vielfältigkeit, Komplexität und Faktoren wie Digitalisierung und Globalisierung zusätzlich ausgeweitet – was regulatorische Rahmenbedingungen geradezu fordert. So ist das im Mai 2018 in Kraft tretenden Gesetz der EU-DS-GVO (Europäischen Datenschutz-Grundverordnung) für die Energiewirtschaft zunächst ein Prozess der gesetzlichen Umsetzung. Des Weiteren jedoch auch eine Chance wie mit Kundendaten, BI-Prozessen und -Analysen Potenziale gehoben werden können. Die angesprochenen Veränderungen vollziehen sich ebenfalls in anderen Branchen, was eine Durchmischung von Sektoren fördert, wodurch die Anzahl der Marktakteure in die Höhe schnellen lässt und ein extremer Wettbewerb die Folge ist.

Um mit den einleitenden Worten „Neu-Denken“ und Neu-Machen“ abzuschließen, sind folgende Herausforderungen zu erkennen. Nachdem mit der Energiewende ein neues Denken von Geschäftsmodellen erforderlich war, steht nun das „Neu-Machen“ an erster Position. In erster Linie repräsentiert ein EVU ein Alleskönner, der möglichst viel und allumfassendes (Branchen- und Kundenvielfalt) Know-How der Wertschöpfungsketten besitzt, um kombiniert mit der Digitalisierung – App und Smartphone tauglich – auf spezialisierte Themen flexibel reagieren kann.

Literatur

Berkel, M (2013): Energiewirtschaft und Preise, BPB – Bundeszentrale für politische Bildung; Online Zugriff am 26.09.17 unter: http://www.bpb.de/izpb/169524/energiewirtschaft-und-preise?p=all