Redispatch 2.0 und die Mindestfaktor-Festlegung als zukunftsträchtiger Reformansatz?


Gegenwärtig führen die Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) in größerem Umfang Redispatchmaßnahmen (Engpassmanagement) durch und sie tragen die Systemverantwortung, um Engpassmanagement und Systemsicherheit zu gewährleisten. Das zunehmende Erfordernis Redispatchmaßnahmen durchzuführen, resultiert einerseits aus dem schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie bis 2022 und andererseits aus dem fortwährenden Ausbau der Stromerzeugungsanlagen aus erneuerbaren Energien. Die Eingriffe in die Erzeugungsleistung von Kraftwerken haben sich seit 2015 auf einem hohen Niveau von durchschnittlich ca. 15,6 TWh eingependelt. [1]

 

Engpassmanagement 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019
Erhöhungen 2,3 TWh 2,6 TWh 8,0 TWh 6,4 TWh 10,2 TWh 7,6 TWh 6,6 TWh
Drosselungen 2,3 TWh 2,6 TWh 8,0 TWh 6,3 TWh 10,2 TWh 7,9 TWh 7,0 TWh
Gesamt 4,6 TWh 5,2 TWh 16,0 TWh 12,7 TWh 20,4 TWh 15,5 TWh 13,6 TWh

 

Tab. 1: Eigene Darstellung basierend auf der Entwicklung der Redispatchmaßnahmen im deutschen Übertragungsnetz: Erhöhungen und Reduzierungen in TWh [2]

Wichtige Grundlagen zum Redispatch wurden bereits im Blogbeitrag Besondere Zeiten verlangen nach besonderen Maßnahmen – Redispatch im Strom-Sektor dargelegt. Im heutigen Blogbeitrag soll speziell die Festlegung der beiden Mindestfaktoren im neuen Redispatchverfahren betrachtet werden. Mittels der neuen Faktoren zum Einspeisevorrang von Erneuerbaren-Anlagen und Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen (KWK-Anlagen) soll das bisherige Verfahren zum Einspeisemanagement abgelöst werden. Zukünftig übernehmen auch die Verteilnetzbetreiber (VNB) eine aktive Rolle, um zu verhindern, dass der ganze Engpass automatisch immer ins Übertragungsnetz verlagert wird. Dabei soll eine verpflichtende vorausschauende Netzzustandsanalyse seitens der VNB Abhilfe schaffen. [3]

Vorläufige Ergebnisse und Konsultation zur neuen Mindestfaktor-Festlegung im Redispatch

Die Bundesnetzagentur (BNetzA) hat am 8. Juni 2020 ein Eckpunktepapier mit den Ergebnissen der vorläufigen Mindestfaktoren-Festlegung veröffentlicht. Bis zum 17. Juli 2020 wurde das Papier außerdem für unterschiedliche Interessengruppen zur Konsultation gestellt [4]. Die Mindestfaktor-Festlegung soll zeitgleich mit den gesetzlichen Änderungen für die Optimierung des Redispatch-Systems zum 1. Oktober 2021 in Kraft treten.

Als Ergebnis der vorläufigen Abwägung lassen sich drei Punkte zusammenfassen [4]:

  1. Für die Reduzierung der Wirkleistungserzeugung von Anlagen nach § 3 Nummer 1 EEG 2017 wird ein Mindestfaktor nach § 13 Abs. 1a S. 2 EnWG in der ab dem 1.10.2021 geltenden Fassung (EE-Mindestfaktor) von 10 bestimmt.
  2. Für die Reduzierung der elektrischen Wirkleistungserzeugung von Anlagen im Sinne von § 3 Abs. 1 des KWKG in Bezug auf die Erzeugung von KWK-Strom nach § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 KWKG wird ein Mindestfaktor nach § 13 Abs. 1b Nr. 2 EnWG (KWK-Mindestfaktor) von 5 bestimmt.
  3. Die Übertragungsnetzbetreiber mit Regelzonenverantwortung bestimmen jährlich den kalkulatorischen Preis gemäß § 13 Abs. 1a S. 2 EnWG (kalkulatorischer EE-Preis), den kalkulatorischen Preis nach § 13 Abs. 1b Nr. 2 EnWG (kalkulatorischer KWK-Preis) und den kalkulatorischen Preis nach § 13 Abs. 1c EnWG (kalkulatorischer NR-Preis) mit Wirkung ab dem 1. Oktober des jeweiligen Kalenderjahres und veröffentlichen diese bis zum 1. September des Kalenderjahres auf einer gemeinsamen Internetseite.

Neben den Mindestfaktoren soll im neuen Gesamtsystem zusätzlich das Einspeisemanagement integriert werden. Der Regelungsvorschlag gemäß Eckpunktepapier umfasst, wann vorrangberechtigter Strom aus erneuerbaren Energien oder KWK-Strom abgeregelt werden darf. Mithilfe der Mindestfaktoren wird konkretisiert, in welchem Verhältnis die Abregelungen von konventionellen – fossil befeuerten – Stromerzeugungsanlagen zu EE-Anlagen (Faktor 10) und KWK-Anlagen (Faktor 5) steht. Gemäß EnWG § 13j Abs. 6 wäre ein Faktor von bis zu 15 möglich gewesen, um den EE-Strom Vorrang einzuräumen [3].

Hinzu kommt, dass nach Art. 13 Abs. 6 der EU-Verordnung 2019/943 (Elektrizitätsbinnenmarktverordnung) bei nicht marktbasiertem „abwärts gerichtetem“ Redispatch folgende Grundsätze gelten: Strom aus erneuerbaren Energiequellen darf zu Redispatch-Zwecken nur reduziert werden, „wenn es keine Alternative gibt oder, wenn andere Lösungen zu erheblich unverhältnismäßig hohen Kosten führen oder die Netzsicherheit erheblich gefährden würden“ [4]. Demzufolge ist ein gestufter Einspeisevorrang zum Vorteil von EE- und KWK-Strom gegenüber konventionellem Strom aus fossilen Energieträgern weiterhin zu beachten. Der vorliegende Zielkonflikt soll dadurch aufgelöst werden, dass das Engpassmanagement bezogen auf EE- und KWK-Anlagen fiktiv verteuert wird. Bei der Prüfung der Kosten einer erforderlichen Engpassbehebungsmaßnahme werden keine tatsächlichen, sondern immer kalkulatorische Kosten angesetzt.

Ein Überblick zu den Stellungnahmen der Interessengruppen:

Neue Redispatch Regelungen im Überblick

Redispatchmaßnahmen beziehen sich bislang auf die Abänderung der Kraftwerkseinsatzplanung zur Vermeidung von Netzengpässen. Die Grundlage dafür sind die Lastfluss- oder Netzbelastungsberechnung der ÜNB. Die neuen Vorgaben im Redispatchprozess müssen bis zum 1. Oktober 2021 umgesetzt werden. Die neue Regelung bezieht zukünftig auch EE- und KWK-Anlagen, inkl. Speicher sowie konventionelle Anlagen ab 100 kW mit ein, die jederzeit für den Netzbetreiber steuerbar sein müssen. Bislang hatten nur die ÜNB ab einer Anlagengröße von 10 MW (nur konventionelle Anlagen) die Verantwortung. Im Rahmen der neuen Redispatchvorgaben wird somit auch das bisherige Einspeisemanagement des Erneuerbare-Energie-Gesetzes (EEG) integriert.

Damit stehen neu insbesondere Verteilernetzbetreiber in der Pflicht rechtzeitig auf ihrer Netzebene einzuspringen, um ein Engpassmanagement durchführen, so dass nicht immer die Lasten im Übertragungsnetz ausgeglichen werden müssen. Im neuen Redispatch-Regime haben die ÜNB erwartbar weniger Eingriffe zu tätigen, weil maßgeblich auf den nachgelagerten Netzebenen mehr Steuerung stattfinden soll. Mit Redispatch 2.0 wird das Ziel verfolgt, die jeweils kostengünstigste Engpassbehebungsmaßnahme umzusetzen.

Für die Umsetzung der Mindestfaktoren müssen zudem adäquate „kalkulatorische“ Preise für die Abregelung von EE- und KWK-Strom bestimmt werden. Aus dem BNetzA-Eckpunktepapier geht hervor, dass die ÜNB den kalkulatorischen Erneuerbaren-Preis und den kalkulatorischen KWK-Preis einmal pro Jahr festlegen werden. Die kalkulatorischen Kosten und alle weiteren Details, d.h. Ermittlung und Veröffentlichung soll auf Basis der festgelegten Mindestfaktoren von den ÜNB selbst übernommen werden.

Nach offizieller Zeitplanung soll die finale Festlegung der Mindestfaktoren bis zum 1. Dezember 2020 in gemeinsamer Abstimmung zwischen BNetzA und dem Umweltbundesamt (UBA) erfolgen. Die Mindestfaktoren sind die Grundlage zur Bestimmung der kalkulatorischen Preise durch die ÜNB, die spätestens zum 1. Oktober 2021 vorliegen müssen, mit dem Inkrafttreten der neuen gesetzlichen Regelungen.

Inwieweit das neue Regelwerk Redispatch 2.0 zu einem effizienteren Engpassmanagement führt, lässt sich erst überprüfen, wenn die Regelungen final fixiert sind und Praxiserfahrungen vorliegen.

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Das Thema Redispatch 2.0 hat erhebliche Potentiale für die Energiewirtschaft:

  • Automatisierung des Energiedatenmanagements
  • Abbildung von Anforderungen zusätzlicher Energiedaten beim Engpassmanagement
  • Kostenreduktion für Netzbetreiber mittels Standardisierung der Datenanalyse
  • Datenmodelle, um eine fundierte und vorausschauende Netzzustandsanalyse zu gewährleisten
  • Datenmapping von Plandaten und Prognosen mit realen Zahlen: Abgleich Ist- und Soll-Zustand
  • Datenaustausch zwischen Netz- und Anlagenbetreibern

Wenden Sie sich bei Fragen zu Redispatch 2.0 jederzeit an affinis, wir helfen Ihnen gerne weiter.

Quellen

[1] BNetzA 2020, Redispatch

[2] BNetzA 2020, Entwicklung der Redispatchmaßnahmen im deutschen Übertragungsnetz: Erhöhungen und Reduzierungen in TWh

[3] Energate vom 08.06.2020, Mindestfaktoren, Redispatch 2.0 wird konkreter

[4] BNetzA vom 08.06.2020, Verfahren zur Festlegung von näheren Bestimmungen im Zusammenhang mit den Mindestfaktoren (Mindestfaktor-Festlegung)

Beitragsbild: Pixabay